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Redebeitrag 8. März- „Feministische Militanz als Antwort auf patriarchale Gewalt“

Von der Gesellschaft unterdrückt, von den Genossen lediglich toleriert – Helke Sander und Sigrid Rüger hatten davon die Nase voll.

„Wir werden uns nicht mehr damit begnügen, daß den Frauen gestattet wird, auch mal ein Wort zu sagen, das man sich, weil man ein Antiautoritärer ist, anhört, um dann zur Tagesordnung überzugehen.“ Erklärte Helge Sander in ihrer Rede am 13.9.1968 bei der Konferenz des Sozialistischen Deutschen Studierendenbundes in Frankfurt. Nur damit eben genau das passierte: Man(n) hat sie reden lassen, für ein Umdenken hat es allerdings nicht gereicht. Stattdessen ging es frisch-fröhlich weiter zur Tagesordnung. Ihre Punkte, mitunter die Bitte nach Unterstützung bei der Errichtung sogenannter Kinderläden, wurden einfach ignoriert. Da ist das Fass übergelaufen und Sigrid Rüger warf aus ihrer Wut heraus drei Tomaten auf die Verantwortlichen der Konferenz, zielsicher wohlbemerkt.

Und damit war es nicht genug: Nach diesem Ereignis gewann die feministische Bewegung mächtig an Schwung und organisierte sich u.a. auch auf militanter Ebene. Das löste Diskussionen in den eigenen Strukturen aus, öffentliche Aufmerksamkeit für feministische Themen, Wellen an Solidarität untereinander… Dass sich Frauen gewehrt haben – auf unterschiedliche Art und Weise – hat damals vermutlich viele Leben gerettet und sollte für uns Inspiration und Antrieb sein, unsere Wut wiederzufinden und uns zu wehren.

In den 70er Jahren wurde Gewalt gegen Frauen besonders international zum zentralen Thema der Bewegung. In Deutschland fanden Publikationen von Feminist*innen zum Thema jedoch nicht die gewünschte Aufmerksamkeit. Die Konsequenz: Wir helfen uns selbst. Zum Beispiel durch den Aufbau von Frauenhäusern, aber auch durch Gegengewalt und das Öffentlichmachen dieser, um andere Betroffene patriarchaler Gewalt zu ermutigen, sich zu wehren.

Eine Protestwelle und Empörung wurden beispielsweise mit dem Erscheinen des Films “Die Geschichte der O.” 1975 ausgelöst, der 2 Millionen Menschen in die Kinos zog. Der Inhalt des Films: Die Geschichte “einer jungen Frau, die es zu genießen scheint, von Männern vergewaltigt, gefoltert und erniedrigt zu werden”. Die Antwort von Feministinnen: Urinieren in Kinosälen und das Bewerfen der Leinwände mit Eiern und Stinkbomben.

In den 80er Jahren nahmen direkte Aktionen gegen Vergewaltiger und deren Anwälte zu. Innerhalb der Linken und der feministischen Bewegung wurden diese äußerst kontrovers diskutiert, besonders die männlichen Genossen schienen die Gegengewalt nicht als gerechtfertigt anzusehen.

Dennoch ermutigten sie vereinzelte Frauengruppen dazu, sich zusammenzuschließen, um sich gegen Männer zur Wehr zu setzen, die sie vergewaltigt hatten.

Was uns hier vielleicht “weit weg”, unrealistisch, streitbar oder kontrovers erscheint, ist im internationalen Kontext längst ein Mittel von FLINTA*, sich gegen patriarchale Gewalt zur Wehr zu setzen, der sie täglich ausgesetzt sind.

So ist der Bloque Negro in Mexiko beispielsweise ein Kollektiv radikaler feministischer Aktivist*innen. Sie sind von Kopf bis Fuß vermummt, um jedes Detail ihrer Identität zu verdecken und tragen Schwarz als Ausdruck ihrer Wut und ihres Nonkonformismus. Während die vorherige Generation der Frauen still protestierte, ist der Bloque Negro laut, unübersehbar und kompromisslos.
In einem Land, in dem jährlich über 4000 Frauen ermordet werden, also jeden Tag 10 Frauen Femiziden zum Opfer fallen und 99% der Täter ungestraft davonkommen, wehren sie sich und kämpfen entschlossen. Ob durch Vandalismus oder Hausbesetzungen – sie hinterlassen Spuren und nehmen sich ihren Raum. Sie trainieren Selbstverteidigung und schützen andere Demonstrant*innen vor Polizeigewalt. Ihr Ziel ist es, das Patriarchat zu stürzen und Angst bei der männlichen Bevölkerung Mexikos zu verbreiten. Die neue feministische Welle will „weder vergeben noch vergessen“ und „kämpft heute, um morgen nicht zu sterben“.

Ähnlich tut es auch die kenianische Gruppe der Shosho Jikinge, was „Großmutter, schütz dich“ bedeutet. Sie besteht aus Frauen im Alter von 55 bis 106 Jahren, die sich in Selbstverteidigung und Kickboxen schulen, um sich gegen Übergriffe zu verteidigen, denen sie besonders in armen Vierteln ausgesetzt sind. Ihre Bemühungen haben dazu beigetragen, die Zahl der Übergriffe zu reduzieren und das Selbstbewusstsein der Frauen zu steigern​.

Darüber hinaus sind Ni Una Menos und Marea Verde zwei der wichtigsten feministisch-militanten Bewegungen in Lateinamerika, die untrennbar miteinander verbunden sind, jedoch unterschiedliche Schwerpunkte haben.

Marea Verde, die „Grüne Welle“, begann als Bewegung für das Recht auf Abtreibung und wurde zu einer der sichtbarsten feministischen Strömungen in Argentinien und darüber hinaus. Der grüne Schal, das Symbol der Strömung, steht für den entschlossenen Widerstand gegen patriarchale Normen und die unnachgiebige Forderung nach sicheren, legalen und kostenlosen Abtreibungen. Marea Verde hat den Druck auf die Regierung so massiv erhöht, dass sie 2020 in Argentinien die Abtreibungsgesetze reformierten – ein historischer Sieg.

Beide Bewegungen sind ein Symbol feministischen Widerstands, der keine Kompromisse kennt. Ni Una Menos fordert Gerechtigkeit für die Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt und Femiziden, Marea Verde die sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung der Frau. Gemeinsam bilden sie eine unerschütterliche Front, die nicht nur gegen die Gewalt in der Gesellschaft, sondern auch gegen die tief verwurzelten patriarchalen Strukturen kämpft. Ihre gemeinsame Stärke liegt in der Solidarität und der unermüdlichen Forderung nach einer gerechteren und gleichberechtigteren Gesellschaft.

Diese Gruppen – der Bloque Negro, die Shosho Jikinge, Ni una menos, Marea Verde und so viele weitere – kämpfen auf ihre Weise, doch alle eint das gleiche Ziel: Emanzipation, das Recht auf Selbstbestimmung und das Ende der Gewalt. Sie sind mutige Kämpfer*innen, die nicht nur für sich selbst, sondern für alle FLINTA* auf dieser Welt eintreten.

Dass ihr Kampf auch unser Kampf ist, wird einmal mehr deutlich, erinnern wir uns an die Statistiken geschlechtsspezifischer Gewalt, die ein erschreckendes Bild zeichnen:

2023 wurde in Deutschland nahezu jeden Tag ein Femizid begangen. Jede siebte Frau in diesem Land hat sexualisierte Gewalt erlebt, mehr als die Hälfte sexuelle Belästigung.
In ALLEN Formen patriarchaler Gewaltausübung steigen die Betroffenenzahlen schon seit Jahren.
Diese grausame Realität wird längst von einer Gesellschaft getragen, die weghört. Und die Verzweiflung, nicht gehört zu werden ist auch im Kreis der eigenen Genoss*innen nicht neu. Das haben wir bereits am „Tomatenwurf” von 1968 gesehen und das ist auch heute noch allgegenwärtig.
Doch historische und internationale Kämpfe von sich wehrenden FLINTA* geben uns Hoffnung. All die Beispiele inspirieren uns, unsere Kämpfe ebenfalls in die Öffentlichkeit zu tragen, mehr Druck auszuüben und zu zeigen: Es reicht!

Wir nehmen das nicht länger hin, denn wenn Staat und Gesellschaft uns nicht schützen, ist es an der Zeit, uns selbst zu verteidigen. So braucht es feministische Militanz als ein bitter nötiges Mittel, um endlich gehört zu werden. Deshalb bleiben wir laut und möchten diesen Redebeitrag mit einem Ausschnitt einer Stellungnahme der Gruppe “Rote Zora” beenden. “Unser Traum ist, dass es überall kleine Frauenbanden gibt – wenn in jeder Stadt ein Vergewaltiger, ein Frauenhändler, ein prügelnder Ehemann, ein frauenfeindlicher Zeitungsverleger, ein Pornohändler, ein schweinischer Frauenarzt damit rechnen und sich davor fürchten müsste, dass eine Bande Frauen ihn aufspürt, ihn angreift, ihn öffentlich bekannt und lächerlich macht.”

Alerta!

Oppressed by society, merely tolerated by their comrades – Helke Sander and Sigrid Rüger had enough.

“We will no longer be content with women being allowed to speak occasionally, listened to out of anti-authoritarian politeness, only for things to then carry on as usual,” declared Helke Sander in her speech on September 13, 1968, at the Socialist German Student Union conference in Frankfurt. Yet, that’s exactly what happened: they let her speak, but it wasn’t enough to spark real change. Instead, business went on as usual. Her points—including a request for support in establishing so-called children’s centers—were simply ignored. That was the breaking point: in a moment of rage, Sigrid Rüger hurled three tomatoes at the conference leaders—hitting her targets with precision.

But that was just the beginning. This event gave the feminist movement a significant push, leading to further organization, including militant actions. This sparked internal discussions, public awareness of feminist issues, and waves of solidarity. The fact that women fought back—in various ways—likely saved many lives and should inspire us to rediscover our own anger and resist.

In the 1970s, violence against women became a central issue for the feminist movement, especially on an international level. In Germany, however, feminist publications on the subject did not receive the attention they deserved. The response? Women took matters into their own hands. They established women’s shelters, practiced counterviolence, and publicized these acts to encourage other survivors of patriarchal violence to fight back.

A wave of protests erupted in 1975 with the release of the film “The Story of O”, which drew 2 million viewers to cinemas. The film depicted “a young woman who appears to enjoy being raped, tortured, and humiliated by men.” Feminists responded by urinating in theaters and throwing eggs and stink bombs at the screens.

In the 1980s, direct actions against rapists and their lawyers increased. Within leftist and feminist circles, these actions sparked heated debates—particularly among male comrades, who often refused to see counterviolence as justified.
Nonetheless, some women’s groups were encouraged to unite and defend themselves against men who had raped them.

What might seem distant, unrealistic, controversial, or debatable to us is, in an international context, a common method for FLINTA* to defend themselves against the patriarchal violence they face daily.
Take Bloque Negro in Mexico, for example—a collective of radical feminist activists. They fully mask themselves to hide every detail of their identity and wear black as a symbol of their anger and nonconformity. While previous generations of women protested silently, Bloque Negro is loud, visible, and uncompromising.
In a country where over 4,000 women are murdered each year—10 femicides per day—with 99% of perpetrators going unpunished, they fight back with determination. Through vandalism and occupations, they leave their mark and reclaim space. They train in self-defense and protect fellow demonstrators from police violence. Their goal is to overthrow the patriarchy and instill fear in the male population of Mexico. The new feminist wave vows to “neither forgive nor forget” and “fight today so we don’t die tomorrow.”

Similarly, the Kenyan group Shosho Jikinge—which translates to “Grandmother, protect yourself”—consists of women aged 55 to 106 who train in self-defense and kickboxing to protect themselves from assaults, particularly in impoverished areas. Their efforts have reduced attack rates and boosted women’s confidence.
Meanwhile, Ni Una Menos and Marea Verde are two of the most important feminist-militant movements in Latin America. Though closely linked, they focus on different issues.

Marea Verde (“The Green Wave”) started as a movement for abortion rights and became one of the most visible feminist forces in Argentina and beyond. The green scarf, its symbol, represents a resolute stand against patriarchal norms and an unwavering demand for safe, legal, and free abortions. Their pressure on the government was so immense that Argentina reformed its abortion laws in 2020—a historic victory.
Both movements are symbols of uncompromising feminist resistance. Ni Una Menos demands justice for victims of gender-based violence and femicide, while Marea Verde fights for sexual and reproductive autonomy. Together, they form an unyielding front—not only against societal violence but against deeply entrenched patriarchal structures. Their strength lies in their solidarity and relentless pursuit of a more just and equal society.
These groups—Bloque Negro, Shosho Jikinge, Ni Una Menos, Marea Verde, and many others—each fight in their own way, but they share the same goal: emancipation, the right to self-determination, and an end to violence. They are brave fighters who stand not just for themselves but for all FLINTA* worldwide.

It becomes even clearer that their struggle is also ours when looking at the statistics on gender-based violence, which paint a grim picture:
– In 2023, nearly one femicide was committed every day.
– One in seven women in Germany has experienced sexualized violence; more than half have faced sexual harassment.
– In all forms of patriarchal violence, the number of affected individuals has been rising for years.

This brutal reality persists because society continues to ignore it. The frustration of not being heard—even within leftist circles—is nothing new. We saw it with the “Tomato Throw” of 1968, and it remains just as relevant today.
But historical and international struggles of resisting FLINTA* give us hope. These examples inspire us to take our fights into the public sphere, to increase pressure, and to make it clear: Enough is enough!
We will no longer tolerate this. If the state and society refuse to protect us, then it is time to defend ourselves. Feminist militancy is a necessary means to finally be heard. That’s why we will remain loud. We end this speech with an excerpt from a statement by the group “Rote Zora”:
“Our dream is that everywhere, small gangs of women will form—so that in every city, a rapist, a human trafficker, an abusive husband, a misogynistic newspaper publisher, a porn dealer, a vile gynecologist will have to reckon with the possibility that a gang of women will track him down, attack him, expose him, and ridicule him.”

Alerta!